Strukturen, Funktionen und Bedeutungen sind immaterielle Größen. Sie werden wahrnehmbar in der Materialität des Gebauten. Dieses ist aber seinerseits keine bloße Realisierung, kein Sekundärphänomen, sondern ein autonomes Prinzip.
Das Physische der Baustoffe bildet den Kontrapunkt zum Geistigen der Linie, es folgt ihr, aber es schafft auch Widerstände, gibt neue Impulse, lenkt sie in neue Richtungen. Aus dem Zusammenspiel beider Prinzipien – Essenz und Substanz – ergibt sich das Ganze.
Die gegenseitige Beeinflussung von Linie und Materie ist dynamisch. Jede neue Stufe auf der einen Seite bringt eine neue Stufe auf der anderen hervor. Dies ist der Prozess der Formwerdung, der grundsätzlich nicht abschließbar ist, sondern lediglich zum Stillstand kommt, wenn die Energie der Widerstände die Energie der Impulse übersteigt.
Verstehende Architektur lässt sich auf das Kräftespiel der Gegensätze ein. Sie verzichtet auf die aprioristische Setzung, verlegt sich jedoch ebenso wenig auf das bloße Reagieren. Verstehende Architektur ist aktiv und passiv zugleich: Sie antizipiert, statt zu kontern, aber sie lässt zu, statt zu dirigieren.
›Undogmatisch‹ heißt allerdings weder ›beliebig‹ noch ›willenlos‹. Es bedeutet eher ›behutsam‹ oder ›rücksichtsvoll‹, eine Vorgehensweise die sich der Komplexität der Anforderungen und ihres eigenen schöpferischen, aber auch zerstörerischen Potentials bewusst ist. Verstehende Architektur ist immer leise Architektur. Was nicht als ängstlich missverstanden werden darf. Man kann die folgenreichsten Sätze sagen, ohne die Stimme zu heben.
Voraussetzung dafür ist die Abwesenheit von Festlegungen im Sinne dogmatischer Setzungen. Der Entwurf ist kein absoluter schöpferischer Akt, sondern ein relativer. Je bewusster er seine eigene Bedingtheit akzeptiert und je offener er mit dem auferlegten Rahmen verfährt, desto größer wird der gewonnene Freiheitsgrad des späteren Gebäudes sein.